«Fahrlässig und bedenklich»

Schweizerische Gewerbezeitung: In der beruflichen Vorsorge ist der Mindestumwandlungssatz seit langer Zeit zu hoch angesetzt. Wie gravierend sind die Probleme, die sich daraus ergeben?

Verena Herzog: Die Lage ist gravierend. Es gibt heute schon in der 2. Säule eine Umverteilung von Jung zu Alt. Diese ist dort nicht vorgesehen und belastet das Alterssparkapital der aktiven Generation. Diese Lücken müssen dann wieder die Jungen schliessen. Das ist eine verantwortungslose Negativspirale, quasi ein Schneeballsystem.

Der Mindestumwandlungssatz ist eine technische Grösse. Für Anpassungen ist jedoch die Politik zuständig. Macht das Sinn?

Wie man am Zustand heute sieht, ist die Politik nicht die richtige Instanz, den Mindestumwandlungssatz zu bestimmen. Diese technischen Parameter müssten entpolitisiert und beispielsweise an die Lebenserwartung gekoppelt werden.

Der Arbeitgeberverband unterstützt bei der BVG-Revision das Modell der Gewerkschaften, das eine Umverteilung in der 2. Säule vorsieht. Was halten Sie davon?

Dies ist eine unverantwortliche Politik, welche unser bewährtes 3-Säulen-Modell über den Haufen wirft. Die 2. Säule wird dann wie die 1. Säule eine Umverteilungsmaschine, die man nie mehr wegbringt. Die kommenden Generationen werden diesen Schlamassel teuer bezahlen müssen.

«DIE TECHNISCHEN PARAMETER MÜSSTEN ENTPOLITISIERT WERDEN.»

Aber was spricht in unserem wohlhabenden Land denn gegen den Leistungsausbau in Form eines Rentenzuschlags?

Irgendjemand muss diesen Ausbau bezahlen. Am härtesten wird es den Mittelstand und unsere KMU treffen. Keines unserer Sozialwerke ist solide aufgestellt. Hier an einen weiteren Ausbau zu denken, ist fahrlässig und unverantwortlich.

Die ganze Welt beneidet die Schweiz um das 3-Säulen-Modell. Haben Sie Bedenken, dass mit der Abkehr vom Einlageprinzip in der 2. Säule dieses Erfolgsmodell aufs Spiel gesetzt wird?

Ja, ich habe grosse Bedenken. Unser System hat sich bewährt und ist lange Zeit erfolgreich gewesen. Dass nun der Arbeitgeberverband daran rüttelt, anstatt strukturelle Verbesserungen vorzuschlagen, ist bedenklich.

«SCHON BALD WERDEN DIE UMVERTEILUNGSSYSTEME NICHT MEHR BEZAHLBAR SEIN.»

Das Modell hätte auch zur Folge, dass ältere Grossverdiener von den Jungen subventioniert werden müssten. Ist das politisch tragbar?

Nein. Bei solch grossen Umverteilungsinstitutionen gibt es immer Fehlanreize und wieder neue Ungerechtigkeiten. Dann schraubt man am System rum, was aber an der Grundstruktur nichts ändert. Die Umverteilung von Jung zu Alt sollte nicht Teil der 2. Säule sein. Der Generationenkonflikt wird weiter verschärft.

Sie befürchten einen Generationenkonflikt?

Dieser wird noch zunehmen. Schon bald werden diese Umverteilungssysteme nicht mehr bezahlbar sein. Die AHV ist auch schon sehr rasch wieder in den roten Zahlen. Wir verschieben die Probleme auf kommende Generationen.

Was hätte die Erhöhung der Lohnprozente für einen Einfluss auf den Wirtschaftsstandort Schweiz?

Der Unternehmensstandort Schweiz würde an Attraktivität einbüssen. Die Schweiz hat heute schon hohe Lohnkosten. Aber mit der Erhöhung der Lohnnebenkosten wird das noch zusätzlich verschärft.

Mit der Halbierung des Koordinationsabzugs wären Niedriglohnbranchen am heftigsten betroffen. Ist dieser Schritt sinnvoll?

Auch die Senkung des Koordinationsabzugs verursacht weitere Kosten und ist ein Ausbau. Doch um die längst fällige Erhöhung des Frauenrentenalters teilweise abfedern zu können, da doch ein grosser Teil der Frauen Teilzeit arbeitet, ist wenigstens eine Senkung des Koordinationsabzugs zu überlegen.

Der sgv hat ein eigenes Modell eingereicht (vgl. Kasten), das bewusst auf einen Leistungsausbau und höhere Lohnprozente verzichtet. Es ist darauf beschränkt, die Einbussen auszugleichen, die eine Senkung des Mindestumwandlungssatzes mit sich bringt. Wie beurteilen sie diesen Ansatz?

Dieser Ansatz muss so verfolgt werden. Wir kommen nicht darum herum, die Probleme an der Wurzel anzupacken. Die Senkung des Umwandlungssatzes muss natürlich abgefedert werden. Aber ein Ausbau ist nicht nötig und auch nicht zu verantworten.

«EIN AUSBAU IST NICHT NÖTIG.»

Bundesrat Alain Berset will das Gewerkschaftsmodell rasch und ohne grosse Anpassungen durchs Parlament schleusen. Wird ihm das gelingen oder wird das Parlament noch Korrekturen vornehmen?

Bei einem bürgerlichen Parlament könnte es sein, dass es Korrekturen geben wird. Aber wenn die Wirtschaft nicht mehr geschlossen für unser liberales und auf Eigenverantwortung aufgebautes Erfolgsmodell Schweiz mit einem schlanken Staat und klugen Sozialwerken einsteht, ist wohl Hopfen und Malz verloren.

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