Votum im Nationalrat: ADHS ist keine Krankheit! Die wirklichen Ursachen müssen nun angepackt werden

Zur gesamten Debatte: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=41997

Kinder, lebhaft, unruhig, das gehört zusammen, ist doch eigentlich ganz natürlich. Wir freuen uns über die Spontanität und sind manchmal überrascht von der Unberechenbarkeit unserer jungen Zeitgenossen. Aber passt das noch in unsere heutige Gesellschaft? Ab wann ist es zu viel der Lebhaftigkeit? Wie viel dulden wir? Die Geschichten vom Zappelphilipp und von Hans Guck-in-die-Luft im heute pädagogisch umstrittenen, von Heinrich Hoffmann bereits 1845 geschriebenen Stuwwelpeter-Bilderbuch kennen wohl fast alle.
Heute wird dieser Zappelphilipp zu schnell als ADHS- oder Ritalin-Kind betitelt und stigmatisiert. Selbst Fachleute berichten, dass unter dem Druck der Gesellschaft, der Schule und der Eltern, die eine rasche Hilfe für die Probleme ihres Kinds erwarten, eine nicht immer solide durchgeführte Diagnostizierung von ADHS erfolgt. ADHS, die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, ist in der Schweiz eine der meist diagnostizierten psychischen Störungen bei Kindern im Schulalter. Die Betroffenen zeigen Symptome, die mit den Anforderungen an ihre Selbstorganisation im Schul- und Familienalltag häufig nicht vereinbar zu sein scheinen. Ihre Symptome sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.
Sehr beunruhigend sind die Zahlen zum Anstieg von Diagnosen und vor allem der verschriebenen Medikamente, und das seit 20 Jahren. Trotz parlamentarischer Vorstösse von allen politischen Richtungen bereits seit 2009, trotz der Besorgnis der nationalen Ethikkommission betreffend die steigenden Tendenzen von pharmakologischen Eingriffen bei Kindern und trotz Rügen der Uno-Kinderrechtskommission bleiben, wie kürzlich vom Bundesamt für Statistik veröffentlicht, die Verkaufszahlen von Methylphenidat, einem Wirkstoff im Ritalin, seit 2011 unverändert hoch auf rund 340 Kilogramm pro Jahr. 2006 war es noch die Hälfte von heute. 1999 waren es noch 38 Kilogramm. Die an Schweizer Ärzte und Apotheken gelieferte Menge Methylphenidat ist von 2000 bis 2014 um 810 Prozent gestiegen.
Die von Swissmedic veröffentlichten Zahlen 2014 entsprechen 100 000 Tabletten zu 10 Milligramm Methylphenidat täglich. Woran liegt das? Am Leistungsdruck in der Schule? An überforderten Eltern? An der Gesellschaft? Am lukrativen Geschäft der Pharmaindustrie?
Mit dieser Motion will ich keinesfalls Ritalin verteufeln. Ritalin, in Einzelfällen spezifisch eingesetzt und in Kombination mit anderen Massnahmen, kann für das Kind hilfreich sein. Aber auch Remo Largo, renommierter Kinderarzt und Autor von Erziehungsbüchern, äussert gegenüber der Zeitschrift „Beobachter“: „Es ist erstaunlich, wie viele Ärzte Ritalin verschreiben. Immerhin handelt es sich um ein Betäubungsmittel. Wer auf der Strasse damit handelt, macht sich strafbar.“ Weiter führt der Kinderarzt aber auch aus, dass es tatsächlich Kinder gebe, für die Ritalin ein Segen sei. Allzu viele Kinder bekämen jedoch Ritalin, so der Kinderarzt und Erziehungsexperte, weil sie den Erziehungsvorstellungen und Leistungsanforderungen nicht gerecht würden. „Das Problem sind nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen. Die Kinder sind so, wie sie schon immer waren.“
Der Wirkstoff Methylphenidat, enthalten in Ritalin, untersteht dem Betäubungsmittelgesetz. Widerspricht die Behandlung mit solchen Medikamenten dem Kindeswohl, oder ist sie dem Kind dienlich? Was und wie viel dürfen Eltern bei der Behandlung mitbestimmen? Ob ADHS eine Krankheit ist oder nicht – auch darüber ist man sich nicht einig. Seitens der Psychologie wurde ADHS in den Neunzigerjahren offiziell als Krankheit in internationale Diagnoseklassifikationssysteme aufgenommen. ADHS gilt deshalb heute als anerkannte psychische Störung, wobei die Ursache in der Psyche der Kinder liegt und auf frühkindliche Entwicklungsstörungen zurückzuführen ist. Der Erfinder des ADHS sieht dies jedoch anders. So bestätigt Dr. Leon Eisenberg in seinem letzten Interview im „Spiegel“ 6/2012, dass er niemals gedacht hätte, dass seine Erfindung einmal derart populär würde.
Interessant ist ja immerhin auch, dass im schönen Tessin die Kinder mit viel weniger Ritalin auskommen. Vielleicht liegt es an der Mentalität auf der anderen Seite des Gotthard. Man muss sich einfach bewusst sein: Wird ein Kind schon in jungen Jahren auf ein Medikament konditioniert, so schadet dies gleichzeitig seinem Selbstbewusstsein.
Äusserst bedenklich ist, dass laut einer im August 2017 veröffentlichten Studie auch gesunde Kinder und Jugendliche für mentale Leistungssteigerungen und Stressbewältigungen zu Ritalin greifen. Bei dieser breit angelegten Studie aus dem Kanton Zürich, an der rund 1400 Schüler im Durchschnittsalter von 17 Jahren befragt wurden, konsumierten 21 Prozent regelmässig verschreibungspflichtige Medikamente, um ihre geistige Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
Aus all diesen Gründen teile ich die Meinung des Bundesrates nicht, die Verantwortung alleine den Kantonen zu überlassen. In Anbetracht der seit 2011 in der Schweiz gleichbleibenden hohen Verschreibungspraxis von Methylphenidat ist es auch Aufgabe des Bundes, eine vertiefte Analyse der Verschreibungspraxis anzuordnen und die Forschung dahingehend verstärken, dass ADHS auch ohne Medikamente behandelt werden kann. Mit dem Ziel der Reduktion der Verschreibung von Ritalin ist zudem von den Kantonen eine systematische Kontrolle der Verschreibungspraxis zu fordern. Gleichzeitig müssen Eltern und Lehrer noch besser über ADHS informiert werden.
Ziel des Bundes muss sein, die Kinder mit ihren besonderen Bedürfnissen zu fördern und zu schützen und auf der anderen Seite die Umwelt, die Eltern, die Schule, die Lehrmeister und Ärzte zu sensibilisieren, sodass sie den Kindern gerecht werden. Ich bitte Sie, die Motion zu unterstützen.

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